von Konrad Lammers
Sechzig Jahre nach Unterzeichnung der Römischen Verträge steht das europäische Integrationsprojekt auf der Kippe. Erstmals wird mit dem Vereinigten Königreich (UK) ein Mitgliedstaat die EU verlassen; weitere Länder könnten dem britischen Beispiel folgen. Die Zukunft des Euro ist alles andere als gesichert; ein Zerfall der Währungsunion scheint nicht ausgeschlossen. Hinzu kommen die Herausforderungen von außen: Der Zuwanderungsdruck aus Ländern mit katastrophalen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen sowie die neue amerikanische Handelspolitik, die in der EU weniger einen Partner als einen zu bekämpfenden Konkurrenten sieht.
Ein Schlüssel für das Verständnis der Existenzkrise der EU ist der grundlegende Konflikt zwischen Erweiterung und Vertiefung. Dieser Konflikt ist lange Zeit von den europapolitischen Eliten negiert worden. Jede Erweiterung hat die Heterogenität der EU vergrößert: im Pro-Kopf-Einkommen etwa oder in den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Einstellungen. Zunehmende Unterschiede machen eine Vertiefung, also Regeln zu harmonisieren oder nationale Kompetenzen auf die EU-Ebene zu übertragen schwieriger. Die EU in ihrer heutigen Integrationstiefe umfasst zu viele (unterschiedliche) Mitgliedsländer oder, was auf das gleiche hinauskommt: Sie ist mit 28 Mitgliedsländern zu tief integriert.
Dieser Befund hilft auch, den Hintergrund des Brexit zu verstehen. Entscheidend für das Votum zum Austritt war, dass große Teile der Bevölkerung im UK die massive Zuwanderung aus den neuen Mitgliedsländern als Bedrohung ansahen, als Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt oder um soziale Leistungen. Diese Zuwanderung wurde möglich, weil mit dem Beitritt der neuen Mitgliedsländer die Arbeitnehmerfreizügigkeit als eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes auch deren Bürgern zustand. Ein sehr großes Lohngefälle und gute Arbeitsmarktchancen machte es für viele Osteuropäer lukrativ, im UK eine Arbeit aufzunehmen. Makroökonomisch gesehen hat die britische Wirtschaft von dem Zustrom von Arbeitskräften aus Osteuropa zwar erheblich profitiert; für das Ergebnis des Volksentscheids spielte das aber keine Rolle. Weite Teile der Bevölkerung sahen sich als Verlierer der Osterweiterung.
Was die ökonomischen Folgen des Brexit angeht, so werden sie für das Vereinigte Königreich bei weitem größer sein als für die EU. Mit dem Ausscheiden des UK aus dem Binnenmarkt verliert zwar die EU den freien Zugang zum wichtigen britischen Markt. Das UK verliert aber seinerseits den Zugang zu dem um ein Vielfaches größeren EU-Markt. Deshalb sind die Veränderungen in den Handels- und Direktinvestitionsströmen für das UK ungleich bedeutsamer als für die EU. Die EU wird zudem für Direktinvestitionen aus Drittländern sowie aus dem UK selbst attraktiver. Dennoch, auch für die EU hat der Austritt eine Wohlstandseinbuße zur Folge, weil der gemeinsame Markt und damit die Möglichkeiten der EU-internen Arbeitsteilung kleiner werden. Durch den Wegfall eines wichtigen Nettozahlers für den EU-Haushalt gerät außerdem die bisherige Haushaltsstruktur der EU ins Wanken, weil es weniger unter den verbleibenden Ländern zu verteilen gibt.
Die EU muss bei den Austrittsverhandlungen ein Ergebnis zu erzielen, das die eigenen wirtschaftlichen Interessen bestmöglich berücksichtigt. Die optimale Lösung wäre ein Verbleiben des UK im Binnenmarkt, also der Erhalt aller vier Freiheiten. Auch für das UK wäre das die ökonomisch vorteilhafteste Lösung. Aber vor dem Hintergrund des Volksentscheids ist für die britische Regierung der Erhalt der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht verhandelbar. Die für beide Seiten verbleibende wirtschaftlich vorteilhafteste Lösung wäre dann, die anderen drei Freiheiten zu erhalten. Eine solche Lösung stellt für die EU ein Dilemma dar. Sie stellt die Institution des Binnenmarktes, der den wirtschaftlichen Kern der europäischen Integration ausmacht und für den eben alle vier Freiheiten konstitutiv sind, zur Disposition. Die EU kann dem UK solche Rechte nicht einräumen ohne Gefahr zu laufen, dass andere Länder ebenfalls austreten werden, um in Verhandlungen für sich dann nur solche Regelungen aushandeln zu wollen, die ihnen genehm sind („Rosinenpicken“).
Ein weiterhin ungelöstes Problem stellt die Krise im Euroraum dar. Die Währungsunion wird bislang durch die EZB erhalten, die mit ihrer ultraleichten Geldpolitik und ihrem Versprechen, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen aufzukaufen, den Staatsbankrott einzelner Euroländer verhindert. Derweilen kommen Länder mit mangelnder Wettbewerbsfähigkeit nicht mit Reformen voran, auch weil es erheblichen Widerstand in der Bevölkerung gibt. Die Hoffnung ist gering, dass Haushalts- und Wettbewerbsprobleme einiger Länder in absehbarer Zeit zu überwinden wären, im Gegenteil sie könnten sich weiter verschärfen. Auch gibt es keinen Konsens über die zukünftige Architektur der Währungsunion. Drei Möglichkeiten stehen zur Auswahl: Erstens: Eine von Brüssel aus gesteuerte Finanz- und Wirtschaftspolitik mit Haftung aller Mitgliedstaaten für die gemeinsamen Schulden, also Elementen einer Transferunion. Zweitens: Verschuldungsrecht und Gestaltung der Wirtschaftspolitik bleiben bei den Mitgliedstaaten. Dazu bedarf es aber eines Ausschlusses der Solidarhaftung und der Einführung eines Insolvenzverfahrens für Staaten. Drittens: Rückkehr zu nationalen Währungen oder es scheiden zumindest einige Länder aus der Währungsunion aus. Jede dieser Lösungen ist mit erheblichen Kosten und Risiken verbunden. Eine offene Debatte darüber findet weder in Deutschland noch in der EU statt; eine Lösung in eine der drei Richtungen ist aber über kurz oder lang unausweichlich.
Auch der Zuwanderungsdruck stellt die EU vor eine Zerreißprobe. Viele Menschen aus dem Nahen Osten und aus Afrika wollen in die EU, teils als Folge von Kriegen oder politischer Verfolgung, zum größten Teil aus wirtschaftlichen Gründen. Mit der massiven Zuwanderung sind aus geographischen Gründen zunächst Griechenland und Italien konfrontiert. Das Dublin-Abkommen sieht vor, dass Flüchtlinge dort um Asyl nachsuchen müssen, wo sie zum ersten Mal das Territorium der EU erreichen. Griechenland und Italien sind angesichts der immensen Zahl an Flüchtlingen in zweierlei Hinsicht überfordert: mit der Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge sowie der rechtsstaatlichen Behandlung ihrer Asylanträge. Sie müssen Lasten schultern, die eigentlich die EU insgesamt zu stemmen hätte. Denn die Flüchtlinge wollen zum allergrößten Teil gar nicht in diese Länder, sie wollen weiter in Länder des reicheren Nordens. Zurzeit bremst der Deal mit der Türkei den Zustrom von Flüchtlingen substantiell; ungewiss ist, wie lange er hält. Im Prinzip braucht die EU eine uneingeschränkte Kompetenz zur Sicherung der Außengrenzen, was ein vereinheitlichtes Asylverfahren einschließt sowie ein Verteilungssystem der Flüchtlinge auf die Mitgliedstaaten. Ansonsten ist die Freizügigkeit im Schengenraum nicht zu halten. Dagegen wehren sich aber insbesondere die osteuropäischen Mitgliedsländer mit allen Kräften.
Nimmt man an, dass der neue amerikanische Präsident seine Losung „America first“ kompromisslos umsetzt, so wird das einschneidende Auswirkungen auf die Handels- und Direktinvestitionsströme zwischen den USA und der EU haben. Beide Wirtschaftsräume sind hochgradig verflochten. Viele Wertschöpfungsketten sind auf Standorte in den USA und in der EU verteilt. Eingriffe in die eingespielten Muster der Arbeitsteilung zwischen den beiden Wirtschaftsräumen werden zu Wohlstandsverlusten in der EU und den USA führen. Falls die USA den protektionistischen Weg gehen, wird die EU ihrerseits darauf reagieren müssen. Wie beim Brexit kommt es darauf an, dass die EU eine starke Verhandlungsposition beziehen kann, sprich dass alle Mitgliedstaaten das Mandat der EU zur Außenwirtschaftspolitik unterstützen.
Das europäische Integrationsprojekt, so wie es von den europapolitischen Eliten unter dem Motto „immer tiefer und weiter“ vorangetrieben worden ist, bedarf einer fundamentalen Kurskorrektur. Letztlich ist nur eine EU überlebensfähig, deren Integrationsgrad von einer breiten Mehrheit in allen Mitgliedsländern getragen wird. Für viele Bereiche wird weniger „Brüssel“ gewünscht, für andere Bereiche mag es auch Zustimmung für mehr Integration geben. Letztlich entscheidend ist, dass die Bürger einen Mehrwert von europäischen Lösungen haben und erkennen.
Erschienen in: bdvb aktuell, Nr. 136, 2017, S. 14-15.