Prof. Dr. Markus Kotzur, Wissenschaftlicher Leiter des Hamburg-Vigoni Forums

28. Februar 2022

Das Hamburg-Vigoni Forum wurde von der Universität Hamburg, dem Europa-Kolleg Hamburg, dem Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik sowie dem Deutsch-italienischen Zentrum für den europäischen Dialog Villa Vigoni vor knapp zwei Jahren ins Leben gerufen. Es will, orientiert an den Kategorien von Raum, Souveränität und Identität, die drängenden Zukunftsfragen gelingender europäischer Integration verhandeln und dazu Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft miteinander ins Gespräch bringen. Für die erste große „Hamburger Rede zu Europa“ hatte es am 24.02.2022 den lettischen Staatspräsidenten Egils Levits, einen Alumnus der Universität Hamburg, an seine alte Alma Mater geladen. Es sollte um „Die Zukunft Europas als Rechts- und Wertegemeinschaft“ gehen. Schon ein Treffen von Levits mit Hamburgs Erstem Bürgermeister Peter Tschentscher am Vortrag stand ganz im Zeichen der dramatischen Zuspitzungen der Ukraine-Krise. Als Russlands Präsident Wladimir Putin in den frühen Morgenstunden des 24. Februar seinen eklatant völkerrechtswidrigen, kaltblütigen und menschenverachtenden Angriffskrieg vom Zaun brach, musste Levits sofort in sein Heimatland zurückkehren. Soweit, so ungut. Über eine ungehaltene Rede gäbe es wenig zu sagen. Umso mehr aber über die Zeitenwende, die zu ihrer Absage führte.

Sie nämlich betrifft Europas Souveränität als globaler politischer Akteur und Europas Identität als Rechts- und Friedensgemeinschaft in ihrem Kern. Dass ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates erstmals seit 1945 die territoriale Ordnung Europas mit Waffengewalt in Frage stellt, dabei alle einschlägigen völkerrechtlichen Verträge zu Makulatur bombt und sich dreist vom Täter zum Opfer stilisiert, schafft eine neue und rekonstruiert eine alte Wirklichkeit. Putin stellt die Macht über das Recht und will die Uhren der Weltgeschichte auf jene Großmachtkonstellation des 19. Jahrhunderts zurückdrehen, die Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahe an des Ende seiner eigenen Geschichte gebracht hat. Soweit das Alte. 1945 waren, wie es in der Präambel zur UN-Charta heißt, die „Völker der Vereinten Nationen fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren.“ Auch wenn dieser Entwurf einer neuen Weltordnung in vielem uneingelöstes Versprechen blieb, machte Europa bis zum historischen „02/22“ mit einer regelgebundenen, wertebasierten internationalen Ordnung jedenfalls insoweit Ernst, als ein Geflecht verbindlicher vertraglicher Absprachen und stabiler Institutionen einen Angriffskrieg zu unterbinden wusste. Das ist heute vorbei, soweit das – radikal – Neue.

Um Europas „strategische Souveränität“ scheint es bei alldem schlecht bestellt. Der Begriff ist dem Unionsrecht ohnehin fremd. Selbst der EuGH, der als „Motor der Integration“ Schritt für Schritt eine Unionsrechtsordnung eigener Art von durchaus konstitutioneller Qualität etabliert hat, spricht regelmäßig nur von Autonomie der Union und machte den Mitgliedstaaten deren Souveränität nie streitig. Vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gelang es, die Rede von einer europäischen Souveränität im politischen Diskurs zu etablieren und dem Begriff eine erstaunliche Karriere zu bescheren. So findet sich die „strategische Souveränität“ etwa in den Parteiprogrammen der Grünen und der FDP, im Koalitionsvertrag der Ampel spielt sie eine prominente Rolle. Dabei geht es weniger um die großen Souveränitätstheorien von Jean Bodin bis Carl Schmitt, weniger auch um eine Neuaustarierung des Kräfteverhältnisses zwischen Union und Mitgliedstaaten im Inneren des europäischen Verfassungsverbund, sondern um Souveränität als konkrete Handlungsmacht, als Potential zu konkreter politischer Gestaltung nach außen. Das wiederum setzt zweierlei voraus. Gemeinsames Handeln-Wollen und Handeln-Können. Beides hat die Union oft genug für sich beansprucht, beides wurde ihr oft genug abgesprochen, in beidem hat sie oft genug versagt. Die Zeitenwende dieser Tage mag wie ein Katalysator in die eine wie die andere Richtung wirken: die limitierte Handlungs- und Gestaltungsmacht als leicht dekonstruierbare Rhetorik entlarven oder (institutionelle) Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. In der deutschen Außenpolitik ist seit dem vergangenen Sonntag kein Stein mehr auf dem anderen geblieben: ein Sondervermögen von 100 Milliarden für die Bundeswehr, die Verteidigungsausgaben sollen an das Zwei-Prozent-Ziel der NATO angepasst werde, Waffenlieferungen an die Ukraine. Unter dem Schock der Äußeren Bedrohung zeigt sich auch die EU einig wie selten. Manche Mitgliedstaaten – einschließlich Deutschlands – musste bei den umfassenden Sanktionen gewaltig über den Schatten ihrer nationalen Interessen springen. Ob daraus ein Einigwerden im Inneren erwächst, der das Handeln-Können nach außen über den Moment hinaus trägt, bleibt abzuwarten.

Die Wissenschaft muss bei alldem keineswegs nur stille Zeugin sein. Wann wenn nicht jetzt, sollten sich Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft gemeinsam die Köpfe darüber zerbrechen, wie Europas Zukunft gestaltet werden, was Europa als Rechts- und Wertegemeinschaft stark, vereint, geschlossen und entschlossen der imperialen Anmaßung des russischen Präsidenten entgegen setzen kann, ohne sein Credo vom Frieden in Freiheit aufzugeben. Will Wissenschaft es sich nicht im Elfenbeinturm intellektueller Glasperlenspiele gemütlich machen, so darf sie sich heute nicht wegducken, selbstscheidend wissend, wie gering ihre Gestaltungsmacht in rebus politicis ist, aber selbstbewusst mahnend, dass ohne wissensfundierte Politik die liberale Demokratie Verschwörungsmythen, Fake News, totalitären Allmachtsphantasien und dreister Geschichtsverfälschung wenig entgegenzusetzen hätte.