Integration und Desintegration in Europa

Ein Gespräch zwischen Stefan Herms, Mitglied im Vorstand der Bundeskanzler Helmut Schmidt Stiftung, Jörn Axel Kämmerer, Generalsekretär der Societas Iuris Publici Europaei, und Markus Kotzur, Geschäftführender Direktor des Institute for European Integration am Europa-Kolleg Hamburg

 

Markus Kotzur: Vom 19. bis zum 21. Juli lädt die „Societas Iuris Publici Europaei“, kurz SIPE, eine Art europäischer Staatsrechtslehrervereinigung, zu ihrer Jahrestagung nach Hamburg ein. Gastgebende Institutionen sind in diesem Jahr die Bucerius Law School und die Universität Hamburg, Kooperationspartner die Bundeskanzler Helmut Schmidt Stiftung und das Europa-Kolleg Hamburg. Das Thema könnte aktueller und drängender ja kaum sein. Frankreichs Präsident Macron fordert eine Neugründung Europas und ein deutliches Plus an Integration innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion. Ein proeuropäischer Wahlkampf hat ihn ins Amt gebracht. Ganz anders das Bild jüngst in Italien. In Polen gerät der Rechtsstaat in Bedrängnis, auch Ungarn macht Sorgen, der Populismus greift verbreitet um sich, der Streit und die Flüchtlingspolitik entzweit die Union und der Brexit-Schock sitzt tief. Ausgang ungewiss. Lieber Herr Kämmerer, steht die Wissenschaft hier machtlos am Spielfeldrand oder kann sie in unruhigen Zeiten doch wichtige, wenigstens diskursive Impulse setzen? Welche Rolle spielt hier die SIPE als gemeineuropäisches Diskursforum?

Axel Kämmerer: Das Spiel zu bestreiten – um im Bild zu bleiben –, ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, sondern der Politik. So gesehen, gehört die Wissenschaft in der Tat an den Spielfeldrand, was aber keineswegs bedeutet, dass sie einfluss- oder bedeutungslos zu sein hat. Als Wissenschaftler beobachten, bewerten und kritisieren wir politische und rechtliche Entwicklungen, suchen wir auch den Dialog mit Politik und Justiz. Manchen sind wir, weil wir unabhängig sind, mitunter unbequem. In einer Europäischen Union, die einen integrierten Binnenmarkt, aber noch keine europäische Öffentlichkeit hervorgebracht hat, die diesen Namen verdient, leistet der wissenschaftliche Diskurs über sowohl politische als auch sprachliche Grenzen hinweg einen wichtigen Beitrag zur Kohärenz. Die vor fünfzehn Jahren gegründete SIPE hat sich zum Ziel gesetzt, mit ihren stets in mindestens drei gleichrangigen Sprachen abgehaltenen wissenschaftlichen Tagungen – die auch einen Rahmen für persönliche Begegnungen bieten sollen – die Entwicklung einer gemeineuropäischen Rechtswissenschaft im Bereich des Öffentlichen Rechts voranzutreiben. Dies tut sie über Sprach- und Kulturräume, Grenzen rechtlicher Systeme – Civil Law und Common Law – und nicht zuletzt auch über Generationen hinweg. Ich freue mich darüber, dass wir unter unseren Mitgliedern sowohl manche Granden des Öffentlichen Rechts als auch eine beachtliche Zahl junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben. Von einigen unter ihnen wird man in Zukunft, da bin sich sicher, noch viel hören. Die SIPE versteht sich, das sei an diesem Punkt klargestellt, nicht so sehr als Vereinigung von Europarechtlern denn vielmehr als eine Vereinigung von Öffentlichrechtlern in ganz Europa, nicht nur in der EU. Was uns aber alle bewegt und antreibt, ist der europäische Gedanke. Europa und seine Rechte bereiten den Boden für unsere Diskussionen und sind raison d’être unserer Vereinigung. Das doch recht schwere Fahrwasser, in das die Europäische Union geraten ist – Sie haben es in Ihrer Frage schon angedeutet –, bedroht ihren Zusammenhalt, die Zusammenarbeit der einzelnen Mitgliedstaaten, das sachliche und räumliche Fortschreiten der europäischen Integration. Staaten drohen auseinanderzubrechen, rechtsstaatliche Ordnungen sind in Gefahr. Alles dies ist Anlass genug, „Integration und Desintegration in Europa“ zum Generalthema der Hamburger SIPE-Tagung 2018 zu erklären.

Markus Kotzur: Lieber Herr Herms, vielleicht mögen Sie gleich an Herrn Kämmerer anschließen: Was macht die diesjährige Tagungsidee für die Bundeskanzler Helmut Schmidt Stiftung so interessant? Anders gefragt: Inwieweit treibt Sie das Thema von europäischer Integration und Desintegration in ihrer Stiftungsarbeit um?

Stefan Herms: Die Beschäftigung mit Fragen der europäischen Integration ist eines der Kernthemen, welches der Bundeskanzler Helmut Schmidt Stiftung in der Gründungsphase neben Fragen des politischen Diskurses und anderer internationaler Herausforderungen als Stiftungszweck mit  auf den Weg gegeben wurde. Insofern passt das Thema der Tagung. Es geht aber nicht nur um das Thema, sondern auch um die Akteure: Wenn Europa manchmal auch kritisch als „Elitenprojekt“ bezeichnet wird, so sind die europäischen Juristen und Staatsrechtslehrer sicher Teil dieser Elite. Die Ideen zur Integration über enge vertragliche und rechtliche Regelwerke sind in engem Zusammenwirken zwischen politischen Akteuren und juristisch geprägter Wissenschaft entstanden. Dieses Zusammenwirken gibt der Wissenschaft Einfluss und Verantwortung und eine eindeutige Herausforderung innerhalb des Wissenschaftsraums zu kooperieren – dies möchten wir fördern und dazu zukünftig auch eigene Beiträge leisten.

Markus Kotzur: In der Tat, auch wir vom Europa-Kolleg freuen uns sehr über die Möglichkeit der Zusammenarbeit, da die zentralen für sie relevanten Zukunftsfragen Europas – keineswegs auf allein auf die EU verengt gedacht – auch einen Schwerpunkt unserer Forschungsarbeit am Institut bilden. Und wir versuchen Forschung in einer Art Mehrgenerationenmodell umzusetzen. Masterstudierende werden im Studiengang „European and European Legal Studies“ ausgebildet, bei der einen Studentin oder dem anderen Studenten schließt sich eine Promotion an. Fellows werden in ihrer Promotions- oder Post-Doc-Phase für Forschungsaufenthalte ans Kolleg eingeladen und kommen einerseits mit den Studierenden ins Gespräch, finden anderseits Gelegenheit wissenschaftlichen zum Austausch mit unseren „Senior Research Fellows“ und Direktoren am Institut. Vielleicht können wir zukünftig auch in Sachen Fellow-Programm Kooperationsmöglichkeiten finden, lieber Herr Herms?

Stefan Herms: Eine der Möglichkeiten neue Impulse im europapolitischen  Diskurs zu setzten, ist mit Sicherheit die Förderung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der  europäischen Integration in Ausbildung und akademischer Forschung. Ich bin besonders dankbar, dass wir durch die großzügige Förderung durch die FHH auf Initiative der Hamburger Bürgerschaft die Möglichkeit haben, nationale und internationale junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Europa-Kolleg zu versammeln, die neben ihren wissenschaftlichen Beiträgen, die bereichernd sein werden, selbst auch eine Prägung in dem Sinne erfahren, dass sie die Herausforderungen der europäischen Integration in ihrem weiteren Lebensweg annehmen und mit bewältigen helfen.

Markus Kotzur: Das klingt vielversprechend. Aber zurück zur SIPE-Tagung und Axel Kämmerer. Was sind Ihre Erwartungen an den die bevorstehenden Begegnungen mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus ganz Europa – und sicher in ganz unterschiedlichen Sprachen – demnächst in Hamburg? Vielleicht verraten Sie uns einige Highlights aus dem Programm? Werden die Tagungsergebnisse auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht?

Axel Kämmerer: Das Tagungsprogramm ist, wie ich finde, durchaus facettenreich. Die Voraussetzungen für ertragreiche Gespräche in freundschaftlicher Atmosphäre sind gut – und wenn uns dann auch noch das sonnige Hochdruckwetter dieses Sommers bis zum Tagungstermin erhalten bleibt, kann eigentlich nichts schiefgehen. Wir haben Rednerinnen und Redner aus vielen Staaten Europas, von der Türkei bis zum Vereinigten Königreich, von Slowenien bis Portugal, gewinnen können, unter ihnen auch Richter mehrerer Verfassungsgerichte und des Gerichts der Europäischen Union. Neben Grundsatzthemen werden auch brisante Fragen wie beispielsweise Brexit, Katalonien, Rechtsentwicklungen in Ostmitteleuropa oder die Finanzkrise behandelt. In der abschließenden Podiumsdiskussion, zu der auch die Öffentlichkeit eingeladen ist, wird die Bewältigung der Finanzkrise ein wichtiges Thema sein. Und wie bei jeder SIPE-Tagung soll es auch diesmal einen Tagungsband geben, in dem später alle Interessierten nachlesen können, was auf der Tagung erörtert worden ist.

Markus Kotzur: Dann bleiben mir nur noch ein herzlicher Dank an meine beiden Gesprächspartner und eine Leseempfehlung. Der SIPE-Tagungsband wird sich dem vielfach herausgeforderten europäischen Integrationsprozess gewiss kritisch-reflektiert stellen, aber den Glauben an Europa deshalb noch lange nicht aufgeben.