Die Corona-Pandemie hat auch Europa hart getroffen. Neben menschlichen Tragödien und überlasteten Gesundheitssystemen, werden die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Krise zunehmend sichtbar. Wie kann die Europäische Union Wege aus dieser weitreichenden Krise finden, und wie könnten diese konkret aussehen? Diese Frage stellten wir unseren Diskutanten in unserem Webinar am 28.05.2020. Direkt zum Video.
Aus wirtschaftlicher Perspektive erachtete Jens Südekum den aktuellen Merkel-Macron-Vorschlag als einen sinnvollen ersten Schritt zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Durch konkrete branchenübergreifende Maßnahmen könnten die Auswirkungen der Coronakrise abgefedert und gleichzeitig gemeinsame europäische Güter wie Klimaschutz, Digitalisierung und Grenzschutz sowie Industrie- und Innovationspolitik unterstützt werden. Die Coronakrise sieht er als Chance für die seit langem notwendige Reform der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion hin zu einer stärker koordinierten Fiskal- und Wirtschaftspolitik. Ein zentraler Punkt in diesem Kontext sei es beispielsweise, das Mandat der EZB zu verändern.
Der Rechtswissenschaftler Markus Kotzur betonte, dass Krisen keinen Automatismus in Richtung mehr europäischer Integration auslösen. Krisen seien zwar Katalysatoren allerdings nicht zwingend zum Besseren. Den Merkel-Macron-Vorschlag beschrieb er aber als „elegante Lösung“, die den Solidaritätsaspekt der Europäischen Union demonstriere. Die aktuellen Konflikte in der Coronakrise werfen Fragen auf, die auf bekannten Kompetenzkonflikten beruhen. In diesem Kontext kritisierte er beispielsweise das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf das EZB-Anleihekaufprogramm. Kotzur warnte davor, Gerichte mit fundamental politischen Fragen zu betrauen und so wichtige politische Diskussion zu verrechtlichen. Er plädierte dafür, Kompetenzfragen und politische Abwägungsprozesse nicht auf die rechtliche Ebene abzuwälzen, sondern eine konstruktive Aushandlung der aktuellen Fragen und Konflikte in Form von kritischen öffentlichen Diskursen zu fördern.
Aus soziologischer Sicht beschrieb Monika Eigmüller einen Wandel der europäischen Öffentlichkeit durch die bedeutende Rolle der sozialen Netzwerke, die Zunahme an Verschwörungstheorien und Halbwahrheiten. Es sei eine Art „pandemic populism“ entstanden, bei dem neue Themen wie die Corona-Pandemie mit alten Konfliktlinien in Verbindung gebracht und propagiert würden. Die Medien berichteten vor allem von europäischen Konflikten um Güter und Anfeindungen zwischen Bürgern. Gleichzeitig zeige die Krise allerdings auch eine äußerst resiliente europäische Öffentlichkeit, in der sich Kommunikationsformen intensivieren und das Vertrauen in Wissenschaft steigt. Auch offenbare sich eine große Solidaritätsbreitschaft darin, dass die Debatte der Verhältnismäßigkeit der großen Einschränkungen für die Mehrheit zum Schutz weniger erstaunlich wenig geführt würde.
Insgesamt sahen die WissenschaftlerInnen in der Corona-Krise eine Chance für eine Reform des europäischen Wirtschaftsraums, die Stärkung des öffentlichen politischen Diskurses und die europäische Solidarität. Allerdings sind sich die Experten einig, dass jede dieser Chancen entschlossenes Handeln und großen Einsatz für das europäische Projekt auf allen Ebenen erfordere.
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