Prof. Dr. Bruno Snell
Ein Porträt von Dr. Gerhard Lohse
Bruno Snell wurde 1896 in Hildesheim geboren. Er studierte in Edinburgh, Berlin, München und Göttingen, habilitierte sich 1925 in Hamburg. 1931 wurde er ordentlicher Professor der Klassischen Philologie an der Universität Hamburg, 1945-1946 der erste Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Hamburg nach dem Krieg. 1946 erschien seine Studie zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen „Die Entdeckung des Geistes“. Von 1951 bis 1953 zweimaliger Rektor der Universität. 1953 gründete er das Europa-Kolleg Hamburg. 1959 vorzeitige Emeritierung. 1977 Mitgliedschaft in der Friedensklasse des Ordens Pour le Mérite. Bruno Snell starb am 31. Oktober 1986 in Hamburg.
Bruno Snell war von seiner wissenschaftlichen wie persönlichen Überzeugung der Verfechter eines Europäertums, das in jenem früheuropäischen Humanismus wurzelt, den er in der griechischen Geistesgeschichte erkannte. Dies kommt in seinen wissenschaftlichen Werken, aber auch in seiner politisch reformerischen Tätigkeit nach 1945 zum Ausdruck, in der er half, die internationalen Verbindungen der Universität Hamburg wieder aufzubauen.
Nationale Eigentümlichkeiten stellten sich ihm aus der historischen Perspektive dar als unterschiedliche Entwicklungen früheuropäischer Grundstrukturen, Nationalismen dagegen als höchst verhängnisvolle Torheiten. Die Zusammengehörigkeit der europäischen Staaten beruhte für Snell auf der griechischen Kultur und dem von ihr ausgehenden Prozess kultureller und gesellschaftlicher Entwicklung. Sie zeigte sich ihm aber ebenso auch in dem übergreifenden Zusammenhang der einzelnen Wissenschaften.
Mit der Gründung des Europa-Kollegs Hamburg wollte Snell durch politische Bildung und das Zusammenwirken verschiedener Wissenschaftsdisziplinen in einem studium generale neue Synergien schaffen, die darauf ausgerichtet waren, bei den Studierenden jenes „wache Interesse an Politik“ zu wecken, das ihm für ein Zusammenwachsen Europas unverzichtbar schien. Es entsprach aber auch seinem von Dilthey geprägten ganzheitlichen Verständnis von Wissenschaft und Gesellschaft.
Snell war sich auch darüber im Klaren, dass die Schaffung des vereinten Europas im Wesentlichen von den neuen Eliten getragen werden musste, die nach dem Krieg in den europäischen Universitäten heranwuchsen. „Es sind durch die Entwicklung der letzten Jahre Probleme entstanden, die bisher an den Universitäten noch nicht bearbeitet worden sind. Ein solches Problem ist, in welcher Form sich die Einigung Europas erzielen lässt. Jedenfalls steht fest, dass unsere Studenten vorbereitet sein müssen, in internationalen Organisationen und Behörden tätig zu werden“ (1954).
Das Lehrprogramm des Europa-Kollegs richtete sich an Studenten aller Fakultäten und sollte Kenntnisse der aktuellen Geschichte, der Geistes- und Kulturgeschichte, des Rechts und der Wirtschaft vermitteln. Hinzu kamen Ringvorlesungen zu Generalthemen, politische Foren mit Gästen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie Arbeitsgemeinschaften zu speziellen Themen.
Snells Forderung nach einer Neuausrichtung der Studentenausbildung wie der Wissenschaften insgesamt wird hier im Konkreten erkennbar. Das positivistische Spezialistendenken, das sich stets viel darauf zugute tat, unpolitisch zu sein, hatte dem Hitlerstaat bedingungslos und unkritisch gedient. Es war eine bittere Erfahrung Snells, „dass ein beträchtlicher Prozentsatz der deutschen Akademiker 1933 sich dem nationalsozialistischen Regime zur Verfügung gestellt hatte. Eine der Ursachen lag in der geringschätzigen Zurückhaltung der deutschen Intelligenz vor dem politischen Leben und in der daraus resultierenden politischen Halbbildung oder Ignoranz.“ (Snell in einer Rede in Tessaloniki, 1965).
Mit der Gründung des Europa-Kolleg Hamburg sollte die von ihm wahrgenommene Kluft zwischen Universität und der gesellschaftlich-politischen Entwicklung beseitigt werden, die nach Snells Überzeugung auf eine historisch bewusste Zusammenführung der politischen und kulturellen Vielfalt Europas hinzielen musste, auf ein geeintes Europa. „Vieles, was heute schon europäische Wirklichkeit ist, hat seinen Weg noch nicht in das Bewusstsein und die Gesellschaft der Menschen gefunden, und es droht, dass wir mit unserem Denken hinter den Tatsachen herhinken.“
In enger Zusammenarbeit mit der Universität Hamburg und den kulturgeschichtlichen, juristischen und wirtschaftswissenschaftlichen Institutionen der Universität wurde das Europa-Kolleg Hamburg ein Beispiel für jenes Zusammenwirken von Theorie und Praxis, auf das Snell in seiner Rektoratsrede vom 14. November 1951 hinweist. Zum Erfassen des Allgemeinen, zu dem auch das intensive Forschen des Spezialisten vordringen „kann und muss“, führe nur ein Theorieverständnis, das im Sinne Platons auch „ein gut Teil Praxis“ mit umgreife. Dieser Praxisanteil besteht für Snell insbesondere in der politischen Praxis:
„Zu einem lebendigen Forscher gehört auch in waches Verständnis für Politik“.
Geschrieben von Dr. Gerhard Lohse